Distanzlernen in Schulen lässt weiterhin auf sich warten

Prof Peter Henning beschreibt ausführlich und kenntnisreich den Stand der Bildung in #Schulen und #Hochschulen in #Corona-Zeiten. Als Kollege – wir beide Leiter des Lab #eLearning im BVDW – und auch bei learntec machten schon früh aufmerksam auf Chancen von digital gestützt Lernen.

Schaut man in deutsche Schulen wird viel über fehlende Wlans und Defizite bei der Technik geklagt. Das Thema Lernen ist viel zu komplex um es alleinig auf IT zu reduzieren. Bereits 2009 habe ich auf vollständige Unvorbereitetheit des Schulsystems bei drohenden Pandemien hingewiesen. (Bildungsklick/Poppe).Die Verantwortlichen müssen sich da schon an die Nase greifen – oder sind sie schichtweg überfordert und ziehen sie sich auf die Position des „wir warten auf …., wir haben schon, aber …“ zurück? Eindeutig fehlt eine Interdisziplinarität mit anderen Disziplinen: eGaming, ja!, .. Big Data, .. bestimmt, Blick auf nicht pädagogische Bereiche, digitale Methodenkompetenz, Kommunikationsforschung ….Spannend sind Distanzlernszenarien für als ‚schwierig‘ vermutete Fächer wie Sport und Fremdsprachen. PDFs und ‚Bewegung an der frischen Luft‘ können es nicht sein. Naturwissenschaften beigebracht mit VR/AR, Mathematik – Horrorfach für viele – ebenfalls.eLearning kann Akzelerator in Lernprozessen sein, es muss gerade jetzt gefördert werden mit Vorzeigeprojekten. Setzt auf Bestehendes wie zum Beispiel Videokonferenz-Lernen, Cloudlösungen und baut sie aus. Es wurde viel zu lange gewartet und es wird immer noch gezögert.

Hier der facebook-Artikel des Professor des Jahres 2007“ in der Kategorie Ingenieurwissenschaften und Informatik. „Wir haben vorgestern im Landesfachausschuss Bildung und Wissenschaft über die Folgen der Corona-Maßnahmen für die Bildung diskutiert. Wenn ich das mit den eigenen Erkenntnissen aus allen Bildungsbereichen zusammenwerfe, kommt ein erschreckendes Bild heraus1 Schule1.1 Der Mangel an Lernzeit und Lernstoff, der sich aus zwei halbgaren Schulhalbjahren ergibt, ist für die meisten Grundschulkinder beherrschbar und aufholbar. Das hängt mit der Flexibilität der kleineren Kinder zusammen, diese Erfahrung haben wir schon vor mehr als 50 Jahren mit den so genannten Kurzschuljahren gemacht, in denen die Bundesländer ihre Schuljahresanfänge aneinander angepasst haben.1.2 Der Mangel ist nicht aufholbar für die älteren Jahrgänge, sagen wir ab Klasse 10. Hier werden wesentliche Aspekte des Stoffes versäumt, was zu erheblichen Defiziten führen wird. Teilweise ausgeglichen wird dies durch den verstärkten Erwerb von Selbstlernkompetenzen und Selbstmanagementkompetenzen.1.3 Bei allen Schuljahrgängen tritt das große Problem auf, dass ein erheblicher Teil der Schüler durch noch so gute Ansätze zum Distanzunterricht nicht erreicht worden ist. Neben den erheblichen Lernstandsdefiziten tritt dabei ein starker Verlust der Lernfähigkeit zu Tage, sie sind kaum noch für „Schule“ zu motivieren. Deutlich gesagt: Wir werden einen signifikanten Anstieg der Schulabbrecher sehen und müssen uns auf eine Ausweitung der Förderprogramme einstellen.1.4 Betreuungslehrer und Schulsozialarbeiter melden einen erheblichen Anstieg der Schüler mit psychischen Problemen – die Rede ist, ohne dass das derzeit verifizierbar ist, von einer Verdoppelung.1.5 Sportlehrer melden eine signifikante Verringerung der körperlichen Fitness (in der 7. Klasse z.B. durch standardisierte Tests erfasst) bereits nach einem halben Jahr. Der körperliche Zustand der Schüler verschlechtert sich dramatisch, wenn sie nur noch daheim eingesperrt sind.2. Hochschule2.1 Obwohl die Hochschulen beim Thema „Lernen auf Distanz“ sehr viel weiter sind als die Schulen (doch häufig immer noch Lichtjahre hinter dem etablierten Stand der Kunst zurück), ergeben sich deutliche fachliche Defizite bereits nach einem halben Jahr. In vielen Fächern fehlt den Studierenden einfach der diskursive Aspekt, die persönliche Betreuung durch einen Tutor oder die Zusammenarbeit an einem gemeinsamen Tisch kann eben nicht vollständig durch noch so ausgefeilte digitale Konzepte ersetzt werden. Nicht umsonst ist der „Stand der Kunst“ heute das Blended Learning, bei dem Präsenzphasen und Selbstlernphasen nach verschiedenen Modellen einander abwechseln und ergänzen.2.2 Nicht nur haben viele Erstsemester des Sommers 2020 ihr Studium bereits wieder abgebrochen – denn so möchten sie einfach nicht studieren. Sondern es wird aus den Abschlussjahrgängen der Schulen berichtet, dass viele der Schüler keine Motivation verspüren, jetzt sofort ein Studium zu beginnen. Wir werden also einen deutlichen Rückgang der Studierendenzahl sehen – katastrophal, weil dies den Fachkräftemangel in Deutschland in wenigen Jahren noch deutlich verschärfen wird.2.3 Viele Studierende berichten über erhebliche psychische Probleme: Verlust der Motivation, Verlust der Tagesstruktur. Wir erleben dies sogar in bisher nicht gekannter Form bei denjenigen, die nach dem Studienabschluss ihre erste Stelle in einem Forschungsprojekt antreten wollten – manche tauchen gar nicht mehr auf.Natürlich sind das alles direkte Beobachtungen, von einer systematischen Erfassung kann nicht die Rede sein. Es ist aber sonnenklar, dass die Corona-Maßnahmen den jungen Menschen nicht nur ein Jahr ihrer Jugend stehlen. Sondern insgesamt den Bildungsstand der Gesellschaft verringern. 2019 zeigte eine sehr schöne Studie des Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital in Wien einen signifikanten Zusammenhang zwischen Bildungsstand und Lebensdauer. Es ist damit allerhöchst plausibel, dass die Corona-Maßnahmen unter dem Strich auch in den Industrieländern mehr Lebenszeit von Menschen kosten werden, als es das Virus selbst auch bei ungehinderter Ausbreitung getan hätte.
Pic Kelly Sikkema

Bildungsexperten: „Setzt endlich digitales Lernen gleichberechtigt neben traditionelle Lernformen!“

Bei der jetzigen Diskussion um Distanzlernen bei Corona wird leider  häufig Sach- und Fachverstand für Lernen allgemein und seine innovativen Formen wie das E-Learning vermisst.  Programmatic Learning oder wie es in den 80er Jahren hieß „programmiertes Lernen“ stößt nicht nur auf Unverständnis sondern auf  Ignoranz.  Hier im Folgenden Überlegungen und Darstellungen zu der Fragestellung Was hat die digitale Werbeindustrie gemeinsam mit innovativem Lernen?
Ein Erläuterungsversuch zu dem uralten Thema, das die Menschen seit Tausenden von Jahren beschäftigt, nämlich wie gutes Unterrichten und Lernen gelingen kann aktuell aus der Sicht eines Kommunikations- und Mediaexperten. Gänzlich andere  Methoden und Ansätze eröffnen ungeahnte Perspektiven.  Die Forderung lautet:
@Lehrer: Lernt aus der digitalen Werbung!

Blumig-romantische Aussagen wie „ Nur bei einem Stirnrunzeln oder einem Lächeln merkt der Unterrichtende, dass er bei seinen Schülern ankommt“, Zitat in der französischen Tageszeiting Libération einer an einer Hochschule lehrenden Wirtschaftswissenschaftlerin, zeigen nicht nur einen Blick nach hinten sondern – Verzeihug für das harte Urteil – Ignoranz. Die Professeure sollte es besser wissen, gerade an Universitäten und Hochschulen hat diese Art des Unterrichtens und Lernens längst Einzug gehalten. Auch eine Empfehlung  „Lesen, Lesen, Lesen“ wie in der FAZ jüngst zeigt neben einer unreflektierten Wiedergabe des Standpunktes eines Verlages, dass ein weit verbreitetes Unverständnis für digitale Lehr- und Lernverfahren vorherrscht bei sich ein Urteil zutrauenden Experten. Ein Bildungshistoriker redet dort sogar von einer „Kustodalfunktion“ des Lehrenden. Recht hat er zugegebenermaßen schon, einen schützenden Lernführer braucht es schon, fragt sich nur, ob es immer physisch sein muss. E-Learningplattformen reden in dem Zusammenhang eher von einer programmierten „interaktiven Responseschiene“ . Pädagogen fallen bei solchen und hier später dargestellten digital gestützten Lernvermittlungs- und Distributionsformen eher in Schnappatmung.

„Das deutsche Bildungssystem hat immer noch nicht erkannt, welche Wirkungsdimensionen digital gestütztes Lernen in Schulen bietet.
Schüler erhalten stattdessen Papier und Arbeitsaufträge.

Nutzt das epochale Ereignis für einen Methodenwechsel.“
Helmut Poppe, E-Learning-Experte, Studienautor.


Hier werden Tablets ‚betankt‘

Dieser Beitrag soll aufzeigen, was in den vergangenen Jahren in Sachen digital gestütztes Lernen in Deutschland versäumt wurde, welche Chancen es bietet und welche Forderungen zu stellen sind, damit diese zukunftsweisende Art des Unterrichtens und Lernens endlich in unseren Landen als ernstzunehmende Lösung auch außerhalb  Corona anerkannt und angewendet wird. Einige Länder machen dies bereits erfolgreich vor und zeigen, wie erfolgreicher Unterricht mit solchen Verfahren verwirklicht werden kann. Mit einigen Kennzahlen wird hier dargelegt, welche Kosten in der Technikbereitstellung entstehen und warum es den Akteuren in der  schulischen Bildung bisher nicht gelungen ist, überzeugende Lösungen zu realisieren. Handlungsanleitungen werden gegeben. Es geht nicht nur um die Bildung und um die Zukunftsaussichten von 11 Millionen Schülern sondern auch um eine Kompetenzvermittlung für das spätere Berufsleben, das, wie wir alle wissen, bestimmt sein wird durch konstanten Weiterbildungsbedarf. Dieser erfolgt sehr häufig lernerzentriert.

Hieß es in den 80er und frühen 90er Jahren „Programmiertes Lernen“, nennen sich digital unterstützte Lern- und Lehrangebote mittlerweile „eLearning“  oder „Distance Learning“.

 Im selben Atemzug werden dann auch Begriffe verwendet wie „Kollaboration“,  „Cloud“,  „Lernplattformen“ oder „Digitalpakt“. „Homeschooling“, wird mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit zum Unwort des Jahres 2020 im Dezember gekürt. Schätzen Sie einmal, wie viele Druckerpatronen in den letzten 10 Tagen im März 2020 in Deutschland erworben wurden. Vermutlich dürften es zur Freude eines großen Onlineversandhauses einige Millionen sein. Die von Lehrern per E-Mail zugesandten Arbeitsaufträge wollen ausgedruckt sein!

Insgesamt haben diese sprachlichen Annäherungsversuche eines gemeinsam: sie entstehen aus der Sicht von Spezialisten und Akteuren, die solch ein weites und hochkomplexes Feld wie Unterrichten und Lernen aus ihrer eigenen Position und Branche wahrnehmen. Sind sie technikorientiert, denken sie an Server und Office. Gamer gehen Richtung Virtual Reality/VR und Augmented Reality-Szenarien (sehr erfolgsversprechend für Mathematik und Naturwissenschaften zum Beispiel). Didaktiker sprechen von Methodenwechsel. Schulbauverantwortliche von Access Poings und Übergabepunkten. Konservativ eingestellte Fachdidaktiker beurteilen solche Verfahren mit „Nichts ersetzt den Präsenzkurs“  und werfen „übertriebene Technikeuphorie“ vor. 

Jetzt, nach mittlerweile zwanzig Jahren des Entwickelns und Anwendens ist das Angebot von digital gestützten Lernangeboten vielfältig und teilweise ausgereift.

Sprachenunterricht mit authentischen Hörtexten, interaktiven Übungen und Lernkontrollen

Aber immer noch nicht ist valide ermittelt worden, welche Vor- und eventuelle Nachteile diese neuen Anwendungen bergen. Die Vorteile sind frappierend offensichtlich für alle Phasen des Lernens. Im Moment der Kognitivierung sorgen sie für ein ‚multisensorisches‘ Verständnis von Sachverhalten. Übungen verlaufen abwechslungsreich, in unterschiedlichen Wahrnehmungsformen durch Klicken und Auslösen, auditiv, visuell ansprechend und motivierend. Der Transfer des erworbenen Wissens geschieht  mit direkter Rückmeldung zum Lerner und Unterrichtenden in verschiedensten Ausprägungs- und Erfolgserfassungsstufen über die Anwendung selbst. Sie erkennt, ob Lösungen und Zwischenschritte verstanden, bearbeitet und korrekt erfolgten. Ein ungemeiner Vorteil hierbei ist, dass Lernschritte des Schülers individuell erfasst und optimiert werden können. Nicht nur der Gesundheitssektor erfährt derzeit durch das Auswerten von gewonnen Nutzungsdaten einen enormen Push, dies ist auch möglich im Lernen durch Rückkopplung. Die einzelnen Phasen werden on- oder offline organisiert und machen nicht nur den Schulranzen weniger schwer  sondern erleichtern auch die Home Office-Aktivitäten vieler Eltern, die zu festgelegten Videokonferenzen ihrer Kinder mit Lehrern im Home Office ungestört arbeiten können. Solch ein Verfahren entlastet somit die Eltern massiv, die vielleicht gar nicht in der Lage sind, die Aufgaben mit ihren Kindern zu erledigen. E-Learning kann also viel mehr als Papierlernen. Es ist höchste  Zeit, beide Verfahren gleich zu stellen und prinzipiell im laufenden Unterricht einzuplanen. Nicht zu allerletzt gilt auch der Spruch „Immersion statt Emission“: wenn an festgelegten Zeitpunkten unter Einhaltung der gesamten tolerierbaren Bildschirmzeit Kinder und Jugendliche zu Hause beschult werden, entfallen Mobilitätsaktivitäten und somit CO2-Emissionen. Wohl bemerkt unter Einhaltung von Bildschirmzeiten. Diese sollten 1 bis 2 Stunden bei bis 12-Jährigen, bis maximal 4 Stunden für 16-Jährige und älter nicht überschreiten. Wohl bemerkt, gemeint ist die komplette Bildschirmzeit über den ganzen Tag. Die Zeitsegmente mit der Schüler sich mit dem Tablet oder PC lernen, dauern im Idealfall zwischen fünf und 15 Minuten.

Schwere Ranzen, leichte Tablets

Der Autor dieser Zeilen hat mit dem Hintergrund Kommunikations- und insbesondere Werbewirkungsforschung zu einem relativ frühen Zeitpunkt nämlich schon 2005 eine Primärstudie vorgelegt, die verschiedene Werkzeuge aus diesen eigentlich weit entfernten Branchen nutzte um Lernen zu analysieren, zu messen und um Handlungsanleitungen für die Gestaltung innovativer Lernszenarien  zu geben. Einzelne Elemente waren hierbei: Big Data-Auswertungen (mit Einverständnis von Arbeitnehmerverbänden. Auch Lernprogramme für die Erwachsenenbildung wurden analysiert.) In Fokusgruppengesprächen wurden Handlungen und Strategien von Lernenden eruiert. Designaspekte wurden von  Usability-Experten untersucht.  Blickverfolgungskameras zeigten zum Beispiel, dass die Probanden eher auf einen lustigen Hund schauten als auf eine Darstellung eines grammatikalischen Sachverhaltes in einem Sprachenlernangebot.

Testperson, Blickverfolgungskameras eigentlich genutzt zur Werbewirkungskontrolle. Hier für ein Sprachlernprogramm, powered by eresult

Auch wurde – als ein Beispiel vieler Teilaspekte – ermittelt, dass Erwachsene  gerne am Wochenende in ihr Lernprogramm einsteigen und ein bis zweimal die Woche von Ihrem Arbeitsplatz darauf, dann aber kürzer zugreifen. Die Primärstudie „E-Learning in Deutschland 2005“ (diese ergänzt durch eine weitere Studie mit dem Titel „E-Learning in Deutschland“ unter Mitwirkung von Prof. Dr. Peter Henning u.a.) wurde verlegt durch den Münchener Hightext-Verlag. Die Protagonisten, die sich  im eLearning-Lab des Bundesverbandes Digitale Wirtschaft BVDW e.V. zusammenfanden, plädierten damals schon engagiert für diese neue Form des Lernens und Unterrichtens.  „Jetzt nach 20 Jahren eLearning und digitaler Bildung haben wir immer noch nicht eine flächendeckende Lösung gefunden. Frankreich ist da wesentlich weiter. Offensichtlich lassen sich in einem zentralistischen System schneller geeignete Strukturen aufbauen und zur Verfügung stellen“, so Helmut Poppe, der damalige Leiter des eLearning-Lab im BVDW. Prof. Dr. Peter Henning, LEARNTEC, urteilt, dass die Kompetenz im Umgang mit eLearning unerlässlich für die spätere berufliche Aus- und Fortbildung und erst recht in der Hochschule ist.

E-Learning in der beruflichen Weiterbildung mit AR-Szenraien. KTM-Advance

Nun, eines ist klar, Interdisziplinarität ist in solch einem komplexen Umfeld Lernen eher Mangelware. Fachdidaktiker stehen  digitalen Szenarien skeptisch gegenüber. Die Augmented und Virtual Reality-Designer von Spiel – und Lernprogrammen machen – aus  Gründen der persönlichen Lernbiografie?  – eher einen  weiten Bogen um Pädagogen.  Die jetzige Situation zeigt, wie wenig vorbereitet Deutschland auf das Szenario Schulschließungen vorbereitet ist. Die Server ächzen und erschweren  den Zugriff auf Lerninhalte,  viele Kinder und Jugendliche wissen nicht, wie sie mit digitalisierten Angeboten umzugehen haben, dies ja aber auch kaum gibt. Es stehen häufig gerade in sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen keine geeignete Endgeräte, sprich Tablets, zur Verfügung. Papier ist weiterhin dominant, die Wirkungschancen digital arrangierter Lernangebote wurden nicht erkannt und erst recht nicht umgesetzt,  der Digitalpakt wird nicht realisiert obwohl die Gelder dafür bereit gestellt sind. Acht Millionen Tablets gefüllt mit Lernprogrammen und Inhalten hätten bei einem Eigenkostenanteil von 50% der Eltern weniger als 1 Milliarde € gekostet. Nur die Entscheidungen für den Einkauf verrieben sich in den Instanzen Pädagogik, Schulträger, Schulämter, Kultusministerien und anderen. Es wurde versäumt neben der Bereitstellung der Endgeräte und der Infrastruktur Lehrer auszubilden für den notwendigen Methodenwechsel, der einher gehen muss mit Trainings für Schüler im Umgang mit Selbst- und Fernlernprogrammen. Zudem müssen Eltern auf den entstehenden Paradigmenwechsel eingestimmt werden, damit sie diesen konsequent zuhause unterstützen. Man kann davon ausgehen, dass man gerade bei ihnen offene Türen einstößt.

Nähern wir uns der Sache einmal mit einigen wenigen aber wuchtigen  Zahlen:

Neue Lernangebote müssen zumindest für 3 bis 5 Kernfächer erstellt werden, digital nutzbar für mobile Endgeräte sein lokal und online.

Hiermit sollten 8 Jahrgangsstufen, nämlich nach Verlassen der Grundschule, mit jeweils 20 Modulen curriculumkonform angesprochen werden.

Diese 640 Lernmodule für Deutsch, Mathematik, Englisch  und eine Naturwissenschaft müssen programmimmanent lerngruppenspezifisch individualisiert werden. Das bedeutet, dass zusätzlich separate Lernkapitel/Module für verschiedene Schulformen erstellt werden müssen wie für berufsbildende Schulen und die gymnasiale Oberstufe. Es kommt also noch einmal eine dreistellige Anzahl von Angeboten sprich Lernprogramme hinzu.

AV-Medien in der Bildung satt, physische Distribution, obsolet?

Bestehende Angebote der Verlage und von internationalen Anbietern

Schon früh, nämlich schon zu Beginn der 2000er Jahre brachte ein Tochterunternehmen der ubisoft ein Lernprogramm auf den Markt mit dem Titel „Addy“. In der Umgebung eines Raumschiffes wurden Fächer wie Sprachen, Naturwissenschaften und Mathematik digital, interaktiv und angereichert um audiovisuelle Momente angeboten. Das französische Unternehmen hat jüngst in Kanada ein Studio eingerichtet, das die Produktion aufwendiger Lernprogramme mit Spielehintergrund erstellt.

Anders gehen deutsche Schulbuchverlage an die Materie: gerade für Sprachen greift man häufig auf die Methode der Strukturmusterübungen in einer Phase des Lernens zu. Sprachen machen immerhin ein Viertel der Unterrichtszeit in deutschen Schulen aus. Grammatische Regeln aber auch Vokabeln und selbst die Aussprache werden in Reihenfolgen systematisch geübt und verfestigt. Ähnlich funktionieren auch Mathematiklernprogramme. Naturwissenschaften vermitteln erfolgreich durch virtuelle Darstellungen Phänomene und Gesetze aus Biologie, Chemie und Physik. Bei den letzten vier Fächern lässt sich durchaus die Frage stellen, welcher volkswirtschaftliche Schaden, abgesehen von persönlichen Misserfolgstraumata,  in jeder Jahrganggstufe bei Schülern entsteht und derer späteren  Lern- und Berufskarriere durch schlecht traditionell vermittelten Lernstoff.

Geschichte, Sozialkunde, Politik, Ethik und Wirtschaft lassen sich erfolgreich lehren und vermitteln durch digital angereicherte Lernszenarien, die häufig in Phasen des entdecken lassenden Lernens schülerzentriert erfolgen. Bei musischen Fächern sind die Vorteile und Nutzungsvorgänge von digital aufbereiteten Lernprogrammen auch Laien bekannt, Zeichnen, Filmen, Gestalten lassen sich hervorragend neben Pinsel und Knete digital einsetzen. Selbst im Sport liefern Simulationen (Schatten-Overlay-Technik) und Anleitungen (zum Beispiel Fosbury-Flop) eindeutige Lernhilfen.
Weitere Inhalte stellen eGames mit Strategieentwicklungen, Trainings- und Ernährungsplänen dar.


Solche  Produktionen mit oben genannten Mengen an Lernpaketen und Modulen erfordern einen Riesenaufwand. Nicht umsonst haben Klett, Cornelsen und andere entsprechende ambitionierte Aktivitäten rasch eingestellt und produzieren brav vornehmlich  PDFs angereichert um AV-Elemente. Wie zu vernehmen war, prallten auch verschiedene Welten bei den Schulbuchverlegern aufeinander, nämlich die der ‚alten‘ Papierleute und die jungen wilden Digitalen. Hinzukam, dass die Verlage massive Einbußen durch digitale Raubkopien befürchteten. Bei einer Zielgruppenauswahl haben sie allerdings ein Feld genutzt, das der  Erwachsenbildung, wo sie bedeutende Umsätze erzielen. Stephan Bayer, Geschäftsführer des Bildungsanbieters Sofatutor geht davon aus, dass die Digitalisierung des Bildungsmarkts die Angebotsszene viel homogener machen wird. Er sieht wie in einem Interview kürzlich in der Fachzeitschrift w&v berichtet, dass „es nicht mehr nur drei Schulbuchverlage geben wird, sondern man dann eben aus 20 verschiedenen Mathe-Apps oder Anbietern auswählt.“ Seiner Meinung nach gab es in den vergangenen Jahren keinen Push von der etablierten Industrie, da diese eher in einem Monopolmarkt agiert.

Ein Blick auf eine gänzlich andere Disziplin – die Werbung

Auch hier zeigt sich die Wichtigkeit von interdisziplinärem Denken und Vorgehen. Die Werbewirtschaft – in Deutschland insgesamt ein Sektor, der etwa 70 Mrd. € im Jahr bewegt – greift zunehmend auf automatisierte Buchungen von Zielgruppen, Medien und Werbeplätzen mittels eines Verfahrens „programmatic advertising“ zurück. Diese Methode der Werbeplanung und Aussteuerung erfolgt über Angebots – und Versorgungsplattformen über denen an fein granulierte Zielgruppen Werbung ausgespielt wird. Die relativen und absoluten Kosten für die Zielgruppenansprache werden in solchen Verfahren teilweise in Auktionsverfahren ermittelt und die Zahlungen abgeschlossen. Der Autor dieser Zeilen beteiligte sich bei einem Düsseldorfer Unternehmen namens optimad schon zu Beginn der 2000er-Jahre mit entsprechenden Angeboten. Wie könnte man solche  Methoden für Lernplattformen umsetzen? Basierte das Grundprinzip des „Programmierten Lernens in den 80er und 90erJahren darauf, dass mit den damaligen schmalbrüstigen PCs einzelne Lernschritte ohne audiovisuelle oder VR/AR-Unterstützung präsentiert und erarbeitet wurden, kann „Programmatic Learning“ deutlich mehr nicht nur bei der Ausspielung sondern auch bei Individualisierung, Erfolgsmessung und der Optimierung in der Aufbereitung von Lernangeboten. Spannend hierbei ist, dass die ursprüngliche Rolle der Schulbuchverlage sich somit dramatisch ändern kann. Die Lernstoff vorhaltenden ’neutralen‘ Plattformen beherbergen für ein Fach vielleicht 10, 20 oder 30 Angebote. Vorstellbar wäre, dass dasjenige zum Zuge kommt, welches am besten für den einzelnen Lernenden geeignet ist oder aber auch das günstigste Kosten-Leistungsverhältnis aufweist. Der Weg bis dahin dürfte ein langer sein. Insgesamt sind aber die Vorteile bei der Echtzeit-Ermittlung, nämlich zu erkennen, wie gut einzelne Lernangebote funktionieren, also solche, bei denen Hänschen und Anna am schnellsten lernen und korrekt Lösungen umsetzen und anwenden. Die Maschine merkt es. Besser als der Lehrer. Wenn da Fragen nach Daten- und Personenschutz aufkommen, sind diese zu lösen. Eine ähnliche Problematik besteht derzeit auch bei der Frage nach der Handyortung von Corona-Infizierten.  Ein apodiktisches Urteil wie letztens in einer Frankfurter Tageszeitung zu lesen , „es verbietet sich eine personenbezogene Evaluierung von selbst“, ist zu kurz gedacht und erfolgte wohl auch in Unkenntnis der hier dargestellten Unterrichtsformen.

Smartboard im Unterricht. Ginge zuhause auch mit großem Bildschirm und via WLAN vom Tablet

Was ist zu tun – während und nach Corona?

  • Die Bereitschaft von Schülern ermiteln (vermutlich hoch, da von ihnen als attraktiv bewertet) und die Nutzungkompetenz ist zu fördern.
  • Dito für Eltern (dürfte auch ein Selbstläufer sein).
  • Unterrichtende müssen Pflichtkurse für solche Lehrverfahren durchlaufen. Deren Eigenproduktionen sind mit einem attraktiven Schlüssel zu bewerten und zu  honorieren.
  • Das bestehende digitale Angebot in den Schulen und für Schulen  muss inventorisiert und auf Nutzung bewertet werden. Aufgeteilt nach rein PDF oder „enriched PDF“ und interaktiven Lernprogrammen.
  • Die Kosten sind gegenüberzustellen und in der gewünschten Wirkung  der Lernangebote zu bewerten.
  • Die Distributionswege WLAN, Tablets, Schul-PCs, Smartboards sind zu ermitteln und Zielgrößen müssen definiert werden (Anzahl Endgeräte pro Schüler, Breitbandversorgung, Anzahl Smartboards).
  • Ganz vornehmlich sind Entscheidungsträger mit ihren Schnittstellen zu definieren und zu bewerten. Gemeint sind hiermit: Schulträger, Kultusministerien, Staatliche Schulämter, Verlage, andere Anbieter, Medienzentren. Ganz offensichtlich sind die Entscheidungswege für den Einsatz von Distanzlernen und E-Learning ausgesprochen lang. Zur Verfügung stehende Mittel aus dem Digitalpakt wurden nicht abgerufen oder werden nicht eingesetzt. Schon eher ketzerisch ist ide Frage, ob die Entscheidung alleinig in den Händen dieser Institutionen weiterhin liegen sollte. Her wurde, was nun in Zeiten von Corona ersichtlich wird, vieles verbummelt.
  • Ein zeitlich definierter Aktionsplan ist verbindlich auf den einzelnen Stufen verbindlich zu erstellen.
Abgerufen bedeutet nicht eingesetzt

Corona bietet für die Digitalisierung eine enorme Chance in der Bildung. Es entstehen zum jetzigen Zeitpunkt neue Initiativen und Angebote, wie die freie Nutzung von Plattformen und Radio- und TV-Angebote für zuhause lernende Kinder und Jugendliche. Die Arbeitsaufträge werden immerhin per E-Mail übermittelt, und es ist davon auszugehen, dass Lehrer auch Rückläufer und Lernerfolge digital erfassen, messen und dokumentieren. Es bleibt nur zu hoffen, dass sollte der Spuk Corona vorbei sein, nicht wieder in alte Muster verfallen wird. Mit Sicherheit wird das Virus Transformationsprozesse in der gesamten Gesellschaft  auslösen unter anderem in den Bereichen  eGovernment, Pharmazie, Industrie, Handel, Werbung und Medien. jetzt schon absehbar ist, dass die Wirtschaft stark leiden und Bildungsgelder weniger werden. Ein Grund mehr, sich das Thema E-Learning als Effizienzauslöser auch für den regulären Schulbetrieb näher anzuschauen. Es bleibt nur zu hoffen, dass die verantwortlichen Akteure in den Ministerien und Ämtern die Nachricht vernehmen und verstehen.

Eines darf man bei der Diskussion der hier aufgeführten Verfahren nicht außer Acht lassen:
Soft Skills und sogenannte „Sondertugenden“ wie  Fleiß, Pünktlichkeit, Höflichkeit und Zuverlässigkeit aber auch ganz allgemein die Sozialkompetenz gehören nicht in die schulische Mottenkiste. Gerade sie sind es, und das sollte man bei der Aufzählung der hier dargestellten Methoden nicht vergessen, diejenigen, die mit den hier genannten Methoden kaum gefördert werden. Bei der Bearbeitung und Erlangung der Lerninhalte und -ziele mit digital gestützten Methoden geht es hauptsächlich um die „Abarbeitung“ bestehender curricularer formaler Vorgaben. Abgesehen davon, dass Lehrer dringend Unterstützung und Ausbldung brauchen, darf man nicht vergessen, dass es oft die kleinen Momente sind, die lebenslange Auswirkungen haben: Das freundliche Lob und das wohlwollende Unterstützen von Leistungen der Lernenden wirken sich häufig, so nebenbei sie kommen mögen, oft fantastisch im späteren Leben aus. Solche ‚magic moments‘ kann digital schwerlich ersetzen. Es hat andere Stärken.


Der Mensch ist ein soziales Wesen – lassen wir den Schülern genügend Zeit zur eigenbestimmten Entwicklung und für das Spielen und Zusammensein mit den Gleichaltrigen. Ganz altmodisch ‚face2face‘ 🙂

Eine gewünschte Digitalisierung der Schulen liegt in den verwalterischen und hoheitlichen Händen von drei Instanzen in Deutschland: Kultusministerien, Staatlichen Schulämtern und Schulträgern. Es ist ein Leichtes über die Langwierigkeit bei der Umsetzung politischer und administrativer Entscheidungen und Prozesse zu klagen. Ihnen gebührt Respekt und Anerkennung. Im Falle des Digitalpaktes sind aber deutlich zeitliche Grenzen überschritten worden. Auf die Frage, wie es nach Corona weitergeht, es sei nun doch Zeit da, um Antworten zu finden, antwortete eine Mitarbeiterin eines Amtes „Sie mache sich erst Gedanken über den nächsten Schritt, wenn er verordnet wird.“ Zweifel dürften erlaubt sein, ob bei einigen der genannten Institutionen proaktives Handeln und professionelles Management vorhanden sind.

Let’s Play! © Evelin Poppe


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Helmut Poppe, der Verfasser dieses Artikels, ist eigentlich Mediamarketer  und
‚Digital Transformer‘ (mit Stationen in der RTL/IP-Gruppe, in deutschen Verlagshäusern und bei einem Marktforschungsinstitut). Er nutzt in diesem Zusammenhang Wirkungs- und Marktforschungsinstrumente aus der Kommunikations- und Werbewirkungsforschung. Er setzte digital gestützte Lehr- und Lernszenarien richtungsweisend ein in Schulen, insbesondere in den Fächern Sprachen, Sport, Kunst, Wirtschaft, darstellende Kunst und Ethik. In der beruflichen Ausbildung nutzt er entsprechende Hilfsmittel bei der Ausbildung von Journalisten und Medienwirkenden neben seiner Arbeit für verschiedene Medienunternehmen sowie für die Freien Demokraten.

Helmut Poppe, #dasMedienZentrm, poppe-media/koenigstein

Alle Bilder poppe-media außer Eingangsbild

poppe-media, Königstein 28.03.2020

Zur freien Verwendung bitte mit Quellenangabe.

Impressionen von der European Radio Show

Short time out @ European radio Show

Artikel veröffentlicht am 31.01.2020 in radioszene.de

Internationale Tendenzen und Innovationen für Medienschaffende

Im Bild: Evelin und Helmut Poppe
Short time out @ European Radio Show

Den Veranstaltern der European Radio Show ist es dieses Jahr wieder gelungen, eine ungemein abwechslungsreiche Messe in Paris auf die Beine zu stellen. Die 3-Tagesveranstaltung, die in einem Kongressprogramm Roundtables, Diskussionen und Präsentationen anbot, verzeichnete nach Veranstalterangaben mehr als 8.000 Besucher vom 23. bis 25. Januar. Diese im Vergleich zu anderen Radioveranstaltungen sehr hohe Anzahl erklärt sich zum einen ganz einfach durch den freien Eintritt für Branchenakteure. So ist es auch Mitarbeitern der ‚dritten Garde‘ aus den Sendern und den umliegenden Branchen finanziell möglich, dem großen Branchentreffen in der historischen Halle de la Villette im Osten Paris beizuwohnen. Gerade diese Radioleute sind es ja schließlich, die wesentliche Innovationen einbringen und umsetzen müssen, und sie kamen zahlreich. Insgesamt gab es von allen Seiten ein großes Lob auch wegen der Vielfalt des Programms und der professionellen Organisation.

Besonders ins Auge fielen Neuigkeiten aus den Bereichen: Personalentwicklung, zur Fragestellung, ob Podcasts dasselbe Phänomen erfahren werden wie Videos auf YouTube, ob und was Frankreich und Deutschlands Radiomacher voneinander lernen können. 
Von der technischen Seite sind besonders drei Neuerungen bei Sender-Aggegratoren und Podcastsoftware zu erwähnen und … was vielleicht besonders zukunftsweisend ist, Innovationen zum Thema Tracking des Hörers, zur Profilbildung und zu der Berücksichtigung der hieraus gewonnenen Daten im Programm. Hier zeichnet sich eine Relevanz für das europäische Medienrecht ab. Eines ist klar, in Frankreich wird fleißig von Seiten des Staates Rundfunk reglementiert, was zur Folge hat, und was auch gleich an dieser Stelle eine Vorwegnahme der insgesamt gewonnen Erkenntnisse darstellt, dass Reglementierungen und hoher Wettbewerbsdruck, wie er in Frankreich viel mehr gegeben ist als in Deutschland … zu kreativen Lösungen führt.

Die deutsche Mediaanalyse MA weist 263 Sender aus, hinzukommen 78 erfasste Webradios. Im Vergleich dazu senden über 1.229 Anbieter in der gallischen Nation. Berechnet man die Netto-Werbeeinahmen auf Basis der Anzahl der Einwohner erhält man eine pro Kopf-Zahl an Werbeinvestitionen Radio von gut 10 € per Jahr in beiden Ländern, was manchen Sendereigner zu einem Stirnrunzeln bewegt, die diese Zahl naturgemäß als viel zu niedrig empfinden.
Einen Hinweis auf einen höheren Erfolg im Werbezeitenverkauf ergeben die auf Basis der gewichteten Einwohnerzahlen ermittelten Umsätze, Frankreich hat eine um 20% kleiner Bevölkerungsanzahl, gewichtet man die Nettowerbeumsätze dort entsprechend, ergeben sich zumindest gleich hohe Einnahmen insgesamt wie in Deutschland (Quelle: bump, Nielsen, VAU.net und ARD). Da das staatliche Radio in Frankreich auf 50 Mio. € Werbeeinnahmen gesetzlich limitiert ist, könnte man anteilsmäßig wie in Deutschland noch einmal etwa 200 Mio. hinzuschlagen. Im Ergebnis könnten die französischen Sender in der Gesamtheit also einiges mehr einnehmen als die hiesigen. Da sich die Reichweiten mit 76% Hörer gestern und in den Verweildauern ziemlich ähneln (Quellen: médiamétrie und MA), scheint linksrheinisch mehr Druck, Kreativität und Erfolg im Verkauf zu diesen höheren Zahlen führen. Diese vergleichenden Aufstellungen sind hier nachlesbar:

Von der Prorammseite fiel auf, dass in unserem Nachbarland stark auf das Format TALK gesetzt wird. Die vier großen nationalen Senderketten France Inter, dieser weiterhin und in Zeiten der Streiks die No.1 und Europe 1, RTL und Sud Radio betreiben nicht nur ein konsequent durchstrukturierte fast ausschließliche Talk-Angebote, sie nutzen auch im hohen Umfang begleitendes Bewegtbild und sehr viele Möglichkeiten für Hörer, um mit den Sendern in Kontakt zu treten. Die beiden in Deutschlands privaten Stationen wenig anzutreffenden Faktoren (da teuer und aufwendig) Reaktivität und Bewegtbild, führen offensichtlich zu hoher Akzeptanz und indirekt zu bedeutenden Werbeeinnahmen.

Programmerfolg und die Faktoren, die hierzu führen, laden zu einer Messung ein. Drei Anbieter stachen bei dieser Aufgabenstellung besonders ins Auge:

ACE misst Call ins und wertet diese Hörerreaktionen aus. Zusätzlich können mit dem gewonnenen Datenbestand bestimmte geplante Themen vorhersehbar gemacht werden nach Anzahl der redebereiten Hörer, deren Historie, Regionalität und Menge. Das Programm wird nach Angaben des Anbieters von führenden Senderketten im Programmalltag genutzt.

Yacast, misst im Auftrag der staatlichen Behörde CSA (diese ist teilweise vergleichbar mit unseren Medienanstalten) mit dem Instrument “Baromètre Radio” begleitend die Reichweiten des Forschungsinstituts Médiamétrie und verfolgt die „strategischen Zielsetzungen“, gemeint sind wohl Senderstrategien, deren Verhalten und Kontrolle. Da bei unseren Nachbarn der Anteil der einheimischen Titel und die Zeit/Wort-Anteile der Politiker eingehalten werden müssen, setzt die CSA ebenfalls auf diesen Dienstleister und eine Anwendung namens “MediaArchiver”.

NEUROMEDIA: Hier geht es (noch?) nicht um die Messung von Gehirnströmen oder gar um deren Beeinflussung sondern um detallierte Messungen des Hörerverhaltens. Diese zukunftsweisenden Anwendungen erlauben nicht nur, mit dem Produkt „CasterStats“ Audio- und Videostreaming zu erfassen und auszuweisen oder mit „TraxFlow“ Musiktitel zu steuern, mit dem dritten Angebot aus dem Portefeuille des belgischen Unternehmens wird – manch einer erinnert sich da noch an die vor zwanzig Jahren aufgekommene Schweizer Uhr, mit der Radionutzungsvorgänge gemessen werden sollten – jetzt hilft das Smartphone hierbei. Wie der Hersteller schreibt, sollen Radio- und TV-Inhalte digital, über UKW oder DABplus verbreitet erfasst und ausgewiesen werden.

Da solche Aufgaben auch zu dem Wirkungsbereich der deutschen Medienanstalten zählen, dürften diese sich bald solche offensichtlich bisher unerkannt gebliebenen neuen Entwicklungen näher anschauen. Bisher verlässt man sich auf Stichproben, die zumeist nicht automatisiert durchgeführt werden durch – wie man hört – Werksstudenten. Im Rahmen eines europäischen Medienrechts und mit der Zielsetzung „gleiches Recht für alle“ ergeben sich spannende Fragestellungen und neue Aufgaben. Diese sollen hier an dieser Stelle aber noch nicht besprochen werden.

Bleibt noch zu erwähnen, dass für den Alltagsbereich relevante Angebote (wieder-) in Paris entdeckt wurden: der von den deutschen Anbietern betriebene Radioplayer kann auch in Frankreich von dortigen Stationen auf Anfrage genutzt werden. Uns gefiel besonders auch der ebenfalls werbefreie Aggregator audials, der was wohl einzigartig ist, Mitschnitte gleich mit dem Handy oder dem PC erlaubt von den tausenden enthaltenen Radio- und Podcastprogrammen. Hier hat das Karlsruher Unternehmen eine ganz exzellente Anwendung geschaffen, die mehr Aufmerksamkeit in der Branche verdient.Wer es spielerisch mag und sich mit Podcasts vergnügen möchte, greife zu lilicast.com. Mit dieser einfach online zu bedienenden und exzellent assistierten Web-App lassen sich Produktionen rasch und optisch gut aufgemacht erstellen. Da griffen wir rasch zu. Die Frage, ob Podcasts die gleiche Erfolgsstory wie YouTube-Videos erfahren werden, wurde natürlich auf der European Radio Show auch gestellt. Syndikatisierungen stellen ein interessantes Modell dar. RTL Radio-Mann Christian Schalt nannte hierzu auch Erlösbeteiligungsmodelle in einer Roundtable am ersten Tag. Da bleibt nur die Frage einer zentralen Audio Landing Page, und diese steht bisher aus.

Roundtable auf der 
Hans Knobloch, Christian Schalt, Caroline Grazé, Vincent Benveniste,
Helmut Poppe bei der European Radio Show 2020
 (Bild: ©RADIOSZENE)
Hansi Knobloch, BR, Christian Schalt, RTL Radio; Caroline Grazé, radioplayer, Vincent Benveniste, DAVID Systemns, Helmut Poppe, Modertor des Roundtables

Wortbeiträge scheinen in Deutschland im Aufwind zu stehen, man beachte hierzu das neue MDR-Format „MDRfragt“ und weit über zehntausend deutschsprachige Podcast-Produktionen. Bei RADIOSZENE wurde auch jüngst über eine entsprechende Entwicklung bei der BBC berichtet. Eher skeptisch und philosophisch sah BR-Mann Hans Knobloch den Zustand des deutschen Radios „Jedes Land bekommt das Radio, das es verdient“. Podjock Gerry (Gérard) aus Liverpool und CEO von Podcast Radio, das Großes vorhat, meint, dass eher die Gesellschaft das Medium prägt. Er stellte jüngst auf LinkedIn sein neues Angebot mit einem real funny gemachten Video vor: „London wide – we cannot wait“.